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Judentum und Israel
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Vortrag zu Norman Finkelstein

Der Holocaust und seine angebliche Instrumentalisierung

Von Yehuda Bauer 

Dem vorliegenden Vorabdruck liegt ein Vortrag zugrunde, den der Autor im März 2001 auf der vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien organisierten Konferenz "Das Gedächtnis des Jahrhunderts" gehalten hat. Der vollständige Text erscheint mit weiteren Konferenzbeiträgen im Sommer 2001 in der Zeitschrift "Transit - Europäische Revue", Verlag Neue Kritik, Frankfurt a.M.

Yehuda Bauer ist Professor für Geschichte an der Universität Jerusalem und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Internationalen Instituts für Holocaustforschung in Yad Vaschem.

Eine der Schwierigkeiten, die sich bei der Beschäftigung mit der Holocaust- Geschichtsschreibung im Kontext des jüdischen Gedächtnisses ergeben, besteht darin, dass die von uns verwendeten Begriffe oft äußerst problematisch sind. Jedenfalls halt ich es für nötig, die meinen zu definieren. Unter jüdischem Gedächtnis verstehe ich jene Vorgänge, an die sich die meisten Juden erinnern -
wenngleich vielleicht niemand sonst - sowie die Art, wie sie sie erinnern. Wer aber sind überhaupt die Juden? Wie wir alle wissen, streiten die Juden selbst erbittert darüber, wer sie sind und wie sie sich selbst definieren sollen. Diese Meinungsverschiedenheiten lassen das Konzept einer jüdischen Identität problematisch erscheinen. Man sollte darum meiner Ansicht nach besser von jüdischen Identitäten sprechen und nicht von der jüdischen Identität. (. . .) 

Gibt es also überhaupt ein jüdisches Volk als wahrnehmbare Entität, über deren kollektives Gedächtnis sich sprechen lässt? Meiner Ansicht nach gibt es gewisse Elemente, die dieser streitlustigen, zersplitterten und enorm lebhaften Ethnie gemeinsam sind. Das bezeichnendste Element, das sie paradoxerweise eint, ist ihre grundsätzliche Uneinigkeit in Bezug auf die gleiche Vergangenheit, auf ihre Gruppengeschichte und vor allem auf die aus der Vergangenheit überlieferten Texte und Traditionen. (. . .) Dennoch wird sich zumindest ein Stück Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen, wechselseitig antagonistischen jüdischen Gruppen finden lassen, und zwar vor allem wegen dieser paradoxen Uneinigkeiten in Bezug auf ihre kollektiven Gedächtnisse. Mir scheint, dieses Stück Gemeinsamkeit in Form eines tiefen sozialen Traumas ist Resultat des Holocausts, und eben dieses Trauma
ist es auch, das die meisten, wenn nicht alle jüdischen Gruppen und die meisten, wenn auch nicht alle jüdischen Individuen miteinander gemein haben. Die Formen aber, in denen sich dieses Trauma zu manifestieren scheint, sind je nach Ort und Umständen verschieden, verändern sich überdies im Laufe der Zeit. Genauso wie Juden in allem unterschiedlicher Meinung sind, so sind sie sich auch in ihrer
Haltung gegenüber diesem traumatischen Ereignis uneins.

Die ultraorthodoxen und viele orthodoxe Juden neigen dazu, anderen Juden vorzuwerfen, sie hätten den Holocaust verschuldet, weil sie nicht jenen von ihnen selbst als göttlich angesehenen Geboten gehorcht hätten, die sie auf Rituale und religiöse Regeln verpflichten. Dergestalt aber hätten sie Gottes Strafgericht provoziert. Dies ist selbstverständlich ein klassischer Fall magischen Denkens: Wenn wir die Gebote einhalten, wird Gott uns zu Hilfe eilen - wir besitzen also die Macht, Gott zu beeinflussen, und folglich besitzen wir wirkliche Macht über historische Ereignisse. Diese Art von Denken eint nicht nur das frühere Oberhaupt der Lubawitscher Chassidensekte, Shneersohn, den verstorbenen Oberrabbiner des Vereinigten Königreiches, Lord Jakobovitz, oder den Oberrabbiner von Palästina während des Krieges, Hertzog, sie findet sich vielmehr in allen drei monotheistischen Religionen. Der Münsteraner Bischof Clemens August von Galen beispielsweise sagte am 3. August 1941, die Bombardierung deutscher Städte durch die Briten sei eine "Strafe Gottes" für die Nichtbeachtung des Gebotes "Du sollst nicht töten". Er meinte nicht die von den Nazis durchgeführte Vernichtung von Juden oder Russen, sondern die von deutschen Behinderten. Wenn keine Behinderten ermordet würden, so deutete er an, gäbe es auch keine Bombardierung deutscher Städte durch die Briten, denn dann würde Gott Deutschland schützen. Im Fall der Juden ist der Schluss offensichtlich: Die Gläubigen gehorchten den Geboten, nicht aber die Nichtorthodoxen. Und deshalb ist es die Schuld der Letzteren, dass der Holocaust stattfand.

Andererseits besagte die ultraorthodoxe Interpretation des göttlichen Willens, dass die Juden nicht vor Ankunft des Messias versuchen sollten, ein jüdisches Palästina zu schaffen. Die Zionisten aber taten genau dies, und Gott strafte sein Volk; folglich sind die Zionisten für den Holocaust verantwortlich. Der ultraorthodoxe Denker Issachar Teichthal argumentierte demgegenüber noch während des Holocausts folgendermaßen: Da das zionistische Unternehmen erfolgreich voranschreite, müsse sein Gelingen Gottes Willen entsprechen; es sei die ultraorthodoxe Opposition gegen den Zionismus, die den Holocaust zu verantworten habe. Die atheistischen, antizionistisch eingestellten Liberalen und Linken in Israel
behaupten heutzutage, die zionistischen Führer in Palästina und dem Westen hätten viele Juden retten können, hätten dies jedoch unterlassen, weil ihnen die europäischen Juden gleichgültig waren, und/oder weil sie sich nur für die Errichtung eines jüdischen Staates interessierten. Diese These der unterlassenen Hilfeleistung nähert sich bedenklich den antisemitischen, ja sogar den nationalsozialistischen
Wahnvorstellungen von der enormen Macht der Juden, die die westlichen Mächte und natürlich Russland hätten beeinflussen können, wenn sie es nur gewollt hätten.

Solche Vorstellungen schmecken wieder verdächtig nach magischem Denken, denn (so die These) wenn die Juden nur gewollt hätten, hätten sie damals das Schicksal der europäischen Juden ändern können. Solche Halluzinationen sind, wie ich meine,
ziemlich deutlicher Ausdruck eines tief sitzenden sozialen Traumas, das jenen Massenreaktionen auf traumatische Ereignisse zu ähneln scheint, wie sie aus Perioden der Vergangenheit bekannt sind. Man hat versucht, diese Obsession jüdischer Gemeinschaften mit dem Holocaust - besonders in Israel und den Vereinigten Staaten - als das Resultat einer vorsätzlichen Instrumentalisierung zu deuten, deren Ziel angeblich das Bedürfnis nach politischer Selbstrechtfertigung und Selbsterhöhung gewesen sei. Das auf dem Holocaust beruhende Opfer- Syndrom, so heißt es, half der israelischen Staatsgewalt bei ihrer Unterdrückung der Palästinenser, und mit Hilfe des Holocaust habe man die Gründung und Existenz des jüdischen Staates gerechtfertigt. 

In Amerika wiederum sei man der Leere der verschiedenen jüdischen Ideologien und der Gefahr einer Auflösung der jüdischen Gemeinschaft durch die Konzentration auf die Tragödie des Zweiten Weltkrieges begegnet. Auf diese Weise wurde das Gedächtnis künstlich stimuliert, um im Gegenzug die Existenz und den Einfluss jüdischer Organisationen zu rechtfertigen. Die Tragödie selbst trat in den Hintergrund - das eigentliche Ziel bestand in politischer Machterweiterung. Diese Herangehensweise wirft, wie ich meine, einige grundsätzliche Probleme auf. Sie scheint mir den sehr realen Effekt, den die zunehmende Bewusstwerdung dessen, was während des Krieges geschah, auf die Juden in beiden Ländern hatte, entweder zu ignorieren oder herunterzuspielen. Fälschlich wird unterstellt, die israelischen Regierungen oder die jüdischen Organisationen in Amerika hätten ein im Grunde künstliches historisches Bewusstsein schaffen können, ohne dass innerhalb der beiden Populationen eine wirkliche Bereitschaft bestanden hätte, auf die (mahnende) Erinnerung an die Tragödie zu reagieren.

Für die Vereinigten Staaten würde dies beispielsweise bedeuten, dass die jüdischen Organisationen in dieser Angelegenheit einstimmig handelten, was wiederum bedeuten würde, dass es so etwas wie die Protokolle der Weisen von Brooklyn gab, mit anderen Worten: eine Verschwörung. Eine weitere Annahme müsste dann lauten, dass die Führer dieser Organisationen über genügend Intelligenz verfügten, um eine solche Verschwörung auszuhecken. All das scheint mir zweifelhaft. Lässt sich die Obsession mit dem Holocaust wirklich nur oder hauptsächlich mit der Instrumentalisierung seines Gedächtnisses erklären? Im Rahmen dieser Diskussion ist ferner zu fragen, ob die sich entwickelnde Geschichtsschreibung des Holocausts in irgendeiner Beziehung zu einer solchen Instrumentalisierung des Holocaust- Gedächtnisses stand. Erlauben Sie mir, einige Beispiele anzuführen.

In Israel fand vor etwa einem halben Jahr eine interessante Kontroverse statt, deren Gegenstand Hannah Arendts berühmter Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem war. Im Mittelpunkt stand Arendts Vorwurf, der Prozess sei von Ben-Gurion inszeniert worden, um die Juden Israels in Sachen Holocaust aufzuklären oder propagandistisch zu beeinflussen, um so die Existenz des jüdischen Staates zu rechtfertigen. In dieser öffentlichen Debatte wurde behauptet, der Vorwurf, Ben-Gurion und seine Regierung hätten das Gedächtnis des Holocausts instrumentalisiert, sei schließlich nichts Außergewöhnliches. Die zeitgenössische Politikwissenschaft habe klargestellt, dass die herrschenden Gruppen in jeder beliebigen Gesellschaft sich stets der wirksamsten ihnen zur Verfügung stehenden Mittel bedienten, um ihre Ideologie und ihre Herrschaft zu rechtfertigen und ein flankierendes historisches Bewusstsein zu schaffen. Dies, so wurde behauptet, solle nicht heißen, Eichmann sei etwas anderes als ein Mörder; schließlich hatte Arendt den Prozess in Israel sogar gerechtfertigt, wenn auch zögerlich.

Sie und viele andere meinten aber, man hätte ihn problemlos überführen und verurteilen können, vorzugsweise zu einer langen Gefängnisstrafe - ohne die von Gideon Hausner, Israels staatlichem Anklagevertreter, inszenierte Show. Die Behauptung, aus der Sicht der zeitgenössischen Politikwissenschaft instrumentalisierten Regierungen die Geschichte für ihre eigenen Zwecke, trifft zweifellos zu. Die Vertreter dieser Ansicht haben sich jedoch nicht gefragt, ob diese Ansicht der Politikwissenschaftler einer detaillierten Kritik standhält. Mir scheint, diese Behauptung schmeckt deutlich nach Neomarxismus: Die alte marxistische These, die Regierung sei nichts anderes als der geschäftsführende Ausschuss der herrschenden Klassen, wird nun auf subtilere und anspruchsvollere Art wiederholt.

Lassen Sie uns einen Moment überlegen: Wenn dem so wäre, wie steht es dann mit den Nürnberger Prozessen? Wie mit dem Tokioter Kriegsverbrecherprozess? Waren diese Prozesse nicht von Regierungen organisiert worden, die die Geschichte des Nazismus zu instrumentalisieren versuchten, um die eigenen Opfer während des
Zweiten Weltkrieges zu rechtfertigen? Wie steht es mit dem Auschwitz-Prozess 1963/64 in Deutschland und anderen derartigen Prozessen in der Bundesrepublik und Polen gegen Nazi-Kriminelle im Zusammenhang mit Treblinka und Belzec? Handelte es sich hier lediglich um Versuche der Regierungen, ihre aktuellen politischen Standpunkte zu rechtfertigen? Was ist so verderblich daran, wenn
Regierungen über die historische und moralische Legitimation zur Aburteilung von Kriegsverbrechern verfügen, denen noch stets - Eichmann in Jerusalem inbegriffen - geeignete Verteidiger zugebilligt werden. Was ist so schlecht daran, solange dabei die Herrschaft des Gesetzes garantiert ist? Nein, so lautet das Argument,
wir geben keinerlei Werturteile in Bezug auf Ben-Gurion und seine Kollegen ab, wir stellen nur den objektiven Tatbestand der Instrumentalisierung fest.

Abermals wiederbelebter Marxismus: Wir sind nur an der objektiven Wirklichkeit interessiert, so argumentiert man, nicht an subjektiven Absichten. Objektiv gesprochen, hat es eine Instrumentalisierung des Holocaust gegeben. Nun, meiner Meinung nach, objektiv gesprochen, sind diese und verwandte Argumentations- weisen nicht überzeugend. Natürlich wollte Ben-Gurion die Generation der israelischen Juden seiner Zeit über die gewaltige Tragödie aufklären, die dazu führte, dass ein Drittel des jüdischen Volkes in einem Abgrund verschwand. Er hätte dies jedoch niemals tun können, wenn das Volk nicht bereit gewesen wäre zuzuhören. Die Legende, bis zum Eichmann-Prozess hätten die israelischen Juden nichts über den Holocaust gewusst, sie hätten nicht zuhören wollen und es sei ihnen gleichgültig gewesen, ist nichts als eine Legende - eine Legende, die kürzlich von meiner Kollegin Hannah Jablonka widerlegt wurde, die zufällig, aber durchaus passend, an der Ben-Gurion-Universität in Beersheva unterrichtet. 

Es gab Literatur; Memoiren wurden publiziert, in den frühen Fünfzigern erschien eine große Anzahl von Gedenkbüchern und wurde verkauft, es gab Theaterstücke, die sich auf den Holocaust bezogen, die Presse brachte viele Geschichten über den Holocaust, und im israelischen Parlament wurde nach heftigen Debatten eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die sich - um nur ein paar Beispiele zu nennen - auf Gedenktage, die Errichtung von Yad Vashem sowie Gesetze gegen jüdische Kollaborateure und Nazi-Kriminelle bezogen. Die Beziehungen zu Deutschland wurden sogar noch heftiger debattiert. Ein wichtiger Prozess fand statt, der so genannte Kastner-Prozess, in dem die Probleme der Judenräte und die Aktivitäten der jüdischen Organisationen während des Holocausts leidenschaftlich diskutiert
wurden. All dies geschah noch vor dem Eichmann-Prozess. Es fehlte jedoch an Detailwissen, und eben das lieferten dieser Prozess - akkurates und verlässliches Wissen, so sollte man hinzufügen, das größtenteils noch für die heutige Geschichtsschreibung von großer Relevanz ist - vierzig Jahre danach.

Das Argument, es gehe hier nicht um Werturteile, ist unaufrichtig - natürlich fällen wir ein Werturteil, und ich glaube, dass jedes vernünftige Werturteil über den Eichmann-Prozess lauten muss: Jawohl, es war unbedingt notwendig, dass der Prozess stattfand. Zweifellos tat man dabei des Guten ein wenig zu viel, wahr ist auch, dass nicht Eichmann allein der Prozess gemacht wurde. Na und? Wurde die historische Wahrheit entstellt? Wurden Dokumente gefälscht? War es denn eine so schlechte Sache, der Welt - nicht nur den israelischen Juden - ein wenig vom
wahren Gesicht des Holocausts zu zeigen?

Jede beliebige politische Herrschaft in jedem beliebigen demokratischen Land, das durch die Zurschaustellung krimineller Handlungen vor Gericht seine Bevölkerung zu erziehen versucht, während es sich dabei strikt an Recht und Gesetz hält, tut nur das, was eine Demokratie tun sollte. Wenn das Instrumentalisierung ist, dann bin ich entschieden dafür. Das Gleiche gilt, wie ich meine, für die Prozesse in Nürnberg, Tokio, Warschau oder Frankfurt. Die Instrumentalisierungsthese führt, wie ich glaube, fast unvermeidlich zu einer Verschwörungstheorie: Leute in der Regierung, die Großindustrie oder mächtige Organisationen konspirieren bewusst, um Gedächtnis für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Natürlich steckt darin ein Körnchen Wahrheit, denn wenn Politiker sich einen politischen Vorteil davon versprechen, eine bestimmte Sorte von Ideen zu lancieren, so werden sie es zweifellos tun.

Zu guter Letzt aber bricht die Verschwörungstheorie in sich zusammen, weil Instrumentalisierung nur dann möglich ist, wenn auf Seiten der Öffentlichkeit die Bereitschaft besteht, die zu Grunde liegenden Kernideen zu akzeptieren. Die Wirkungsmöglichkeiten einer geschickten Propaganda in einer (mehr oder weniger) demokratischen Gesellschaft sind begrenzt. Dies gilt sicherlich für den Aufstieg der Nazipartei in der Weimarer Republik: Es ist unzutreffend, wenn behauptet wird, die Nazi-Propaganda sei der entscheidende Faktor in dieser Entwicklung gewesen, und dabei gleichzeitig die Tatsache zu ignorieren, dass den arbeitslosen und desillusionierten deutschen Massen nur das erzählt wurde, was sie ohnehin hören wollten. Es ist keine Rechtfertigung des Nationalsozialismus, wenn man sagt, die Nazis hätten wirtschaftliche und politische Lösungen angeboten, die für eine großen Anzahl von Deutschen akzeptabel waren. Warum war die jüdische Gesellschaft bereit, auf die gegebenen Informationen, das Wissen auf die instrumentalisierende Propaganda in Sachen Holocaust zu hören? 

Ich behaupte, dass die jüdische Gesellschaft nach dem Holocaust eine im Wesentlichen traumatisierte Gesellschaft ist. Was als Instrumentalisierung erscheint und es teilweise auch ist, stellt hauptsächlich eine Reaktion auf das Trauma des Holocausts dar, und dieses Trauma unterscheidet sich nicht wirklich bei den so genannten Führern und der jüdischen Öffentlichkeit im Allgemeinen - ob nun in Israel oder sonst irgendwo. Ich glaube also nicht an die Protokolle der Weisen von Jerusalem oder Brooklyn. Auch ist meine Sicht von Politikern nicht optimistisch genug, als dass ich glauben könnte, sie verfügten notwendigerweise über die intellektuelle Kapazität, solch eine Verschwörung anzuzetteln, selbst wenn sie es darauf anlegten. In welcher Hinsicht ist die israelische Gesellschaft traumatisiert und inwiefern führt dies zu einem falschen historischen Bewusstsein?

Ich verwende den Begriff des historischen Bewusstseins hier in dem Sinne, wie er von meinem Lehrer, Richard Koebner aus Breslau, dem Gründer der Abteilung für allgemeine Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, ursprünglich vorgeschlagen wurde. Wenn ich Koebner richtig verstanden habe, ist historisches Bewusstsein die Gesamtsumme aller Wahrnehmungen von Geschichte, die in einer gegeben Gesellschaft gerade üblich sind, wobei sich Sachinformationen, zeitgenössische Haltungen und Werte unvermeidlich miteinander vermischen. Ein falsches historisches Bewusstsein geht darüber hinaus und entstellt die Sachinformationen, damit sie zeitgenössischen Bedürfnissen dienen. 

In den meisten Demokratien ist dies aber nur teilweise mutwilliger Entstellung geschuldet, es handelt sich vielmehr um das Ergebnis sozialer Entwicklungen, die ihrerseits nur eingeschränkt manipulierbar sind. Es gibt, wie ich meine, deutliche Fallbeispiele, wo dieses Trauma zu Tage tritt. Im heutigen Israel - und wie ich betonen muss, vor der gegenwärtigen Präokkupation mit der Frage der materiellen Entschädigungen - verging und vergeht buchstäblich kein Tag, ohne dass in israelischen Zeitungen Artikel über den Holocaust erscheinen, der doch immerhin vor gut 55 Jahren ein Ende fand. Der Ausstoß an Prosa und Lyrik, Theaterstücken, Kunst und Musik, Philosophie und theologischen Reflexionen, von historischen Analysen ganz zu schweigen, scheint ständig zuzunehmen. 

In diesem Sinne war der Eichmann-Prozess tatsächlich der Auslöser für eine noch gewaltigere Lawine auf diesem Gebiet. Das daraus entstehende historische Bewusstsein war natürlich teilweise falsch, insofern es in partiellem Widerspruch zu den Erkenntnissen der Geschichtsschreibung stand. Einiges davon, wenngleich weniger als zur gleichen Zeit in Amerika, war und ist Kitsch. Einiges davon, manchmal sogar eine ganze Menge, resultierte sicherlich aus dem Bedürfnis, tagespolitische Entscheidungen zu rechtfertigen. Lassen sie mich nur ein Beispiel anführen: Der Nachdruck, der in den frühen Jahren, vor und nach dem Eichmann-Prozess, auf den bewaffneten jüdischen Widerstand gelegt wurde. Dies war keineswegs das Ergebnis einer regierungsamtlichen Anordnung. Diese Gewichtung entstand aus der Situation des jungen Staates, in dem nicht nur die Eliten, sondern die ganze Bevölkerung, die Neuankömmlinge aus afrikanischen und asiatischen Ländern eingeschlossen, nach Vorbildern und historischen Ereignissen suchten, um ihren aktuellen Kampf ums Dasein und für dauerhafte Sicherheit zu stärken.

Den bewaffneten Widerstand nicht zu betonen, wäre bei der Mehrheit der Israelis auf völlige Ablehnung gestoßen. Wurden Lügen erzählt? Gab es einen Widerspruch zu historiographischen Erkenntnissen? Im Großen und Ganzen: nein. Zugegeben, es gab Übertreibungen. Heute aber, wo wir nicht länger den bewaffneten Kampf, sondern vielmehr das Leiden der Opfer des Genozids und das Heldentum der nichtjüdischen Retter betonen, wo wir den Holocaust im Rahmen des Genozids im Allgemeinen verorten, stellt sich heraus, dass es mehr und nicht weniger bewaffneten Widerstand gab, als in den 50er und 60er Jahren bekannt war. (. . .) Ein anderes, in dieser Debatte oft bemühtes Beispiel ist die Schaffung des amerikanischen Holocaust Memorial Museum.

Es ist unbestritten, dass Präsident Carter politisch taktierte, als er diese Idee vor den Kongress brachte. Stimmte der Kongress der Amerikanisierung des Holocaust auf Grund jüdischen Drucks zu? Nun, bis zu einem gewissen Grad vielleicht. Doch warum sollten Senatoren und Kongressabgeordnete aus Gegenden, wo es praktisch keine Juden gab, die Errichtung eines Museums unterstützen, das sich auf den Genozid an Menschen bezog, die keine amerikanischen Bürger gewesen
waren, denen gegenüber die Vereinigten Staaten also keinerlei gesetzliche Verpflichtung gehabt hatten? 

Die Juden stellen nur einen geringen Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung. Zugegeben, sie sind Teil der herrschenden Eliten geworden. Doch selbst unter ihnen herrschte keine Einmütigkeit, als die Idee eines Museums aufgeworfen wurde. Und tatsächlich wäre das Museum wegen des üblichen internen Kleinkrieges unter den Juden selbst beinahe nicht errichtet worden. Es war die Gruppe der Überlebenden, die auf seine Errichtung drängte, und es waren die früheren Kämpfer, die sich unter ihnen hervortaten. Es war ursprünglich Elie Wiesel, der den Anstoß gab und als Erster die Leitung übernahm. Doch dann trat er zurück, und die Regierung hätte das Projekt problemlos durch Verschleppung platzen lassen können.

Warum wurde ein Museum dieser Art auf der Mall in Washington errichtet, wo doch die amerikanischen Ureinwohner und die schwarzen Amerikaner noch immer darum kämpfen, sich eines zu schaffen? Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Eine davon ist zweifellos die, dass die Juden als mächtig empfunden werden, weit mächtiger, als sie es in Wahrheit sind. Wir müssen uns nämlich abermals daran erinnern, dass es so etwas wie die jüdische Community in Amerika nicht gibt; es gibt sie nur im Plural. Und diesen Communities gelingt es nur selten, in irgendeinem Punkt Einigkeit zu erzielen. Aber diese Wahrnehmung jüdischer Macht bestand und besteht noch, und kein amerikanischer Politiker würde die Behauptung riskieren, dass die Juden wirklich eine kleine Minderheit darstellen, die gefahrlos und auf freundliche Art in ihre Schranken verwiesen werden kann. War das ausreichend, um das populärste Museum der amerikanischen Geschichte zu schaffen, beliebter als das Smithsonian? War da nicht die wachsende Erkenntnis, dass bei diesem speziellen Genozid etwas geschehen war, was für andere, ähnliche Ereignisse stand, dass hier etwas noch nie Dagewesenes vorlag und das amerikanische Volk durch Bande des Glaubens und der Tradition dieser besonderen Minderheit verpflichtet war? Etwas, das nicht ignoriert werden konnte. 

Warum entschieden sich fünf Bundesstaaten des USA für die Einführung der Holocaust-Erziehung als Pflichtfach in ihren Lehrplänen? Warum wurde sie von 35 anderen Bundesstaaten empfohlen? Nur wegen des jüdischen Drucks, oder gab es da nicht das Gefühl, dass dies eine moralisch richtige Entscheidung war, weil es sich beim Holocaust um einen Extremfall dessen handelte, was überall auf der Erde passiert(e)? Hätten die jüdischen Organisationen überlebt, wenn sie sich nicht an dieser Kampagne beteiligt hätten? Ich bezweifle es sehr. Und vom Standpunkt des Historikers aus betrachtet - waren dies angemessene Reaktionen? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht, denn all diese Entwicklungen - Museum, Lehrplan, Sensibilisierung der Öffentlichkeit usw. - waren von einem gerüttelt Maß an konzentriertem, häufig abstoßendem Kitsch begleitet. 

Nehmen Sie den Fall der Fernsehserie Holocaust, die 1978 als Dreiteiler ausgestrahlt wurde. Es handelt sich dabei zweifellos um ein Beispiel für schlechten Geschmack, obgleich viele Episoden darin historisch belegbar sind, andere selbstverständlich nicht. Nicht die jüdischen Organisationen haben diese Serie zu verantworten, sondern Leute, die sich sicher waren, damit Geld zu machen. Sie sollten Recht behalten, denn 119 Millionen Amerikaner sahen die Serie. Damals gab es knapp 6 Millionen Juden in den USA, so dass mindestens 113 Millionen Nichtjuden zuschauten. Keiner zwang sie dazu, und jüdische Organisationen waren in keiner Weise involviert. 

1979 wurde die Serie auch in Deutschland ausgestrahlt, und 19 Millionen Deutsche sahen sie. Keine jüdische Organisation hat das veranlasst. Es handelte sich um einen Fall, in dem die Geschichtsschreibung Teilen der in der Serie verwendeten Bildsprache entschieden widersprach. Und doch, was die mentalen Nachwirkungen der Serie angeht, so gaben sie ganz offensichtlich den zentralen Anstoß zur Ausbreitung der Holocaust-Erziehung an amerikanischen Universitäten und Colleges. Und sie waren wohl auch ein Faktor bei der Herausbildung ernsthafter Forschung - über den Holocaust im Besonderen und Völkermords im Allgemeinen. Übrigens ist ein Großteil der Forschung über Völkermord im Allgemeinen jüdischen Ursprungs - und das sicher nicht zufällig. (. . .) 

Die jüdische Erinnerung an den Holocaust ist eine traumatisierte Erinnerung. Wenn man mit einem Trauma nicht umgehen kann, flüchtet man sich in eine Liturgie oder in Klischees - oder in beides. Das Klischee "Nie wieder" zeigt an, dass man in höchstem Maße darum besorgt ist, dass es tatsächlich nie wieder geschieht. Wenn man unablässig wiederholt "wir werden niemals vergessen", dann hat man genau dies im Sinn, insbesondere, indem man dieses Trauma an einen Ort unterhalb der Bewusstseinsschwelle schiebt. Viele Juden würden dies alles nur zu gerne hinter sich lassen - was nicht verwundert, handelt es sich doch in der Tat um eine schreckliche und belastende Erinnerung. Doch der Holocaust ist längst zu einem universellen Symbol für von Menschen verursachte Katastrophen geworden, und dies, eben weil er einer sehr spezifischen Gruppe aus sehr spezifischen
Gründen zugestoßen ist. 

Selbst wenn die Juden den Holocaust vergessen, wird die nichtjüdische Welt sie daran erinnern. Unter der Herrschaft der Nazis in Europa konnten die Juden dem Holocaust nicht entkommen. Heute können sie der Erinnerung nicht entkommen: Sie sind zum Erinnern verurteilt. 

Aus dem Englischen von Reinhard Brenneke

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09.04.2001

 


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