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Judentum und Israel
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Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland

Jungle World vom 11.10.2000

Klimaveränderung

Brandanschläge wie in Düsseldorf und Friedhofsschändungen wie in
Schwäbisch Hall sind nur die Spitze des Eisbergs. Der alltägliche
Antisemitismus in Deutschland wird nicht wahrgenommen. Wenn
nichtjüdische Deutsche meinen, unter sich zu sein, geht es zur Sache.
Wenn ich mich dann als Jüdin oute und Kritik äußere, weil es niemand
sonst tut, dann war alles ein »Missverständnis«. Oder es heißt: »Ihr
Juden seid überempfindlich.«

Seit der »Wende« ist der Ton schärfer geworden. 1990 habe ich in
Westdeutschland Jugendarbeit gemacht. Als eine Jugenddisko nicht zum
gewünschten Zeitpunkt stattfinden konnte, beschwerte sich ein
jugendlicher Pfadfinder mir gegenüber mit den Worten: »Deine Alten
haben sie vergessen zu vergasen.« Auch über antisemitische Witze wurde
von allen gelacht.

1992. Inzwischen lebe ich in Berlin. Kurz vor Ladenschluss am Kiosk.
Die Zeitungsfrau zahlt einer Kundin zu viel Wechselgeld aus. Diese gibt
den zu Unrecht erhaltenen Betrag zurück, die Zeitungsfrau bedankt sich.
Die entrüstete Reaktion der Kundin: »Na, hören Se mal - wir sind ja
hier nicht beim Juden.« Niemand reagiert.

1994. Am Gedenkstein von Moses-Mendelssohn in der Großen Hamburger
Straße steht eine Pfarrer-Fortbildungsgruppe. Die Leiterin - Pfarrerin
und Psychotherapeutin - ist in sich versunken und spricht über die
kleinen Steinchen, die auf dem Gedenkstein abgelegt sind, wie das bei
jüdischen Grabsteinen Brauch ist: »Mein Großvater hat immer gesagt, das
sind die Steine, mit denen die Juden Jesus umgebracht haben.« Niemand
sagt etwas.

1996. Mir fällt auf, dass inzwischen auch alle meine Bekannten und
Freunde aus der ehemaligen Ostberliner jüdischen Gemeinde ihre Einträge
aus dem Telefonbuch haben löschen lassen - wie Juden in Westdeutschland
schon lange vorher.

Dezember 1997. Der Gedenkstein am Ort des ehemaligen
Deportationssammellagers in Berlin-Mitte wird zertrümmert. Die Polizei
stellt die Ermittlungen nach einiger Zeit ein, weil niemand aus der
Nachbarschaft Hinweise geben kann oder will. Ein halbes Jahr später
verlesen Leute aus dem jüdischen Jugendzentrum dort die Namen aller aus
Berlin deportierten Juden. Einige Nachbarn beschweren sich wegen
»Lärmbelästigung«.

April 1998. Ich bekomme die erste Morddrohung auf meinen
Anrufbeantworter. Eine Männerstimme mit österreichischem Akzent bezieht
sich auf meine Rundgänge zur jüdischen Geschichte und sagt:  »Die Neue
Synagoge gehört in die Luft gejagt; deine Führungen müssen aufhören und
du Judensau gehörst einen Kopf kürzer gemacht.« Eine Anzeige bräuchte
ich nicht zu machen, wird mir von der Polizei mitgeteilt, denn sie
hätte keinen Erfolg.

Sommer 1999. Einige Wochen vor dem Tod von Ignatz Bubis wird auf dem
freien Platz vor dem Roten Rathaus, das stets von Polizisten bewacht
ist, ein Schwein mit einem Davidstern, in dem »Bubis« steht,
ausgesetzt. Keiner hat etwas bemerkt.

September 2000. Stadtrundgang im Scheunenviertel. Wir stehen vor einem
ehemaligen jüdischen Waisenhaus. Noch einige Jahre nach der Wende war
hier eine öffentliche Schule. Das Gebäude ist heruntergekommen und
steht leer. Vor kurzem wurde es der jüdischen Gemeinde zurückgegeben.
Der Stadtführer erklärt: »1991 hat die jüdische Gemeinde von einem Tag
auf den anderen die Kinder hier rausgekantet und einen lukrativen
Vertrag mit einer Werbeagentur gemacht.« Niemand fragt nach.

Beim jüdischen Online-Magazin Hagalil (http://www.hagalil.com) gehen täglich
antisemitische Mails ein, manchmal mehrere Hundert. Kurz bevor ich diesen
Artikel beende, leere ich meine Mailbox. Den Text, der mir ins Auge springt,
hat mein Kollege vor einigen Wochen 300 mal erhalten: »Was ist ein Jude in
Salzsäure? Ein gelöstes Problem.«

iris noah

Die Verfasserin betreut die Berlin-Seiten des jüdischen Online-Magazins
Hagalil, ist Mitherausgeberin des europäisch-jüdischen Magazins Golem
und führt bei »Unterwegs« Rundgänge zur jüdischen Geschichte Berlins
durch.
Schlagworte: Antisemitismus, Deutsche / Bundesrepublik, Nationalismus, Jugend / Jugendarbeit, Berlin, Einzelschicksale, Drohungen, Internet, Deutsch / Deutsches

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