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Judentum und Israel
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Antisemitismus 1997?

Vorbereitet für:
Dollase, R., Kliche, Th. & Moser, H. (Hrsg.).
Opfer und Täter fremdenfeindlicher Gewalt.
Weinheim, München: Juventa.

Wolfgang Frindte, Friedrich Funke & Susanne Jacob
Neu-alte Mythen über Juden
Ein Forschungsbericht

Daten zum Antisemitismus in Deutschland

Wie steht es also mit dem Antisemitismus in Deutschland? Entfalten die "giftigen" Mythen über die Juden als Juden auch heute noch ihre Wirkung? Und wenn ja, in welcher Weise spiegeln sie sich als Einstellungen wider?

Die empirischen Daten, die wir im folgenden vorstelle, stammen aus einer von der Volkswagenstiftung geförderten Studie mit 2133 deutsche Jugendlichen (im Alter von 15 bis 19 Jahren), die wir im Sommer und Winter 1996 in vier deutschen Bundesländern befragten Bayern, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Thüringen).

Antisemitismus ist die Target Variable. Dabei gehen wir von einem Dreikomponentenansatz antisemitischer Einstellungen aus: Manifester Antisemitismus, latenter Antisemitismus und Verantwortung gegenüber den Juden sind die Komponenten.

Als Manifesten Antisemitismus (AS-Man) bezeichnen wir negative soziale Konstruktionen (Äußerungen, Meinungen, Einstellungen und Deutungen) über Juden als Juden. Manifest antisemitische Einstellungen spiegeln sich u.a. in religiös ausgedrückten Vorurteilen gegenüber Juden wider ("Die Juden sind Schuld am Tode Christus"), in säkularisierten Formen der Ablehnung von Juden ("Mit Juden sollte man keine Geschäfte machen") und in politisch verbalisierten antijüdischen Statements ("Die Juden sind Fremdkörper in unserer Nation").

Mit dem Konstrukt des Latenten Antisemitismus (AS-Lat) greifen wir den o.g. Ansatz von Bergmann und Erb (1986, 1991) über die Kommunikationslatenz im öffentlichen Umgang mit antisemitischen Phänomenen auf und beschreiben damit die Ablehnungen, über die negativen sozialen Konstruktionen gegenüber Juden öffentlich zu reden.

Relativ neue Formen des Umgangs der Deutschen mit den Juden drücken sich u.E. in der zunehmenden Ablehnung einer besonderen Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden aus. Wir betrachten diese Ablehnung als Teil aktueller antisemitischer Einstellungen und nehmen sie als weitere Subdimension in unserem Modell auf (Ablehnung von Verantwortung gegenüber Juden (AS-Ver).

Im nächsten Schritt konstruierten wir eine Skala, die die o.g. drei Aspekte der Zielvariable erfassen soll: Manifester Antisemitismus, Latenter Antisemitismus (im Sinne der Kommunikationslatenz) und Ablehnung von Verantwortung gegenüber Juden. Für eine Vorversion der Skala wählten wir aus verschiedenen Instrumentarien bzw. Umfragestudien bereits getestete Items aus (IfD seit 1952, Gibson & Duch 1991, Bergmann & Erb 1991, Lederer 1994,) bzw. formulierten neue Items. Nach einer theoretisch-konzeptionellen Überprüfung entwickelten wir schließlich die folgende Skala mit 13 Items und versahen sie mit einem 5-stufigen Antwortmodell von 1 (lehne ich ab) bis 5 (stimme ich zu).

Eine Faktoranalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation) lieferte uns drei Faktoren, die insgesamt 62,7% der Gesamtvarianz aufklären und unsere theoretisch angezielte Struktur bestätigen: Faktor 1 klärt 43,5% der Gesamtvarianz auf und enthält all jene Items, die nach unseren Vorstellungen "Manifesten Antisemitismus" zu erfassen in der Lage sein sollen; Faktor 2 mit 10,7% Varianz-aufklärung enthält die drei Items der Subskala "Abwehr von Verantwortung gegenüber Juden"; auf dem Faktor 3 (8,6% Varianzaufklärung) laden die Items "Latenter Antisemitismus" hoch. Auch in konfirmatorischen Faktorenanalysen mit Hilfe von LISREL konnte die Dreifaktorenstruktur mit korrelierten Faktoren gestützt werden. Dieses Modell erwies sich gegenüber alternativen Modellen (unkorrelierte Faktoren bzw. andere Anzahl von Faktoren) als überlegen (Adjusted Goodness of Fit Index AGFI = .92; Standardized Root Mean Square Residual SRMR = .037).

Die folgende Tabelle zeigt die Items, ihre Faktorzugehörigkeit und die prozentuale Zustimmung (Skalenwert 5) zu jedem Item, getrennt für die männlichen und weiblichen Jugendlichen in Ostdeutschland (Thüringen und Brandenburg) und Westdeutschland (Bayern und Schleswig-Holstein.

Item

Faktorzugehörigkeit

weibliche Jugendliche
aus Ost-
deutschland

männliche Jugendliche
aus Ost-
deutschland

weibliche Jugendliche
aus West-
deutschland

männliche Jugendliche
aus West-
deutschland

1. Es wäre besser für Deutschland, keine Juden im Land zu haben.

Faktor 1

"Manifester Antisemitismus"

5,6

7,9

3,1

6,0

2. In Deutschland haben die Juden zuviel Einfluß.

Faktor 1 "Manifester Antisemitismus"

3,5

6,6

1,9

4,8

3. Die Juden sind mitschuldig, wenn sie gehaßt und verfolgt werden.

Faktor 1 "Manifester Antisemitismus"

5,2

7,0

3,3

5,6

4. Juden haben auf der Welt zuviel Einfluß.

Faktor 1 "Manifester Antisemitismus"

3,5

5,0

2,7

4,2

5. Ich gehöre zu denen, die keine Juden mögen.

Faktor 1 "Manifester Antisemitismus"

6,8

5,5

2,5

6,3

6. Juden sollten keine höheren Positionen im Staate innehaben.

Faktor 1 "Manifester Antisemitismus"

8,9

12,8

4,6

8,8

7. Mit Juden sollte man keine Geschäfte machen.

Faktor 1 "Manifester Antisemitismus"

8,7

11,2

5,2

8,0

8. Das deutsche Volk hat eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden.

Faktor 2

"Ablehnung von Verantwortung gegenüber Juden"

17,0

19,3

20,9

23,3

9. Als heute lebender Jugendlicher muß man nicht mehr über die Schuld der Deutschen gegenüber den Juden nachdenken.

Faktor 2

"Ablehnung von Verantwortung gegenüber Juden"

11,1

20,0

12,0

21,1

10. Jahrzehnte nach Kriegsende sollten wir nicht mehr soviel über die Judenverfolgung reden, sondern endlich einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen.

Faktor 2

"Ablehnung von Verantwortung gegenüber Juden"

18,2

32,0

20,8

29,2

11. Ich glaube, daß sich viele nicht trauen, ihre wirkliche Meinung über Juden zu sagen.

Faktor 3

"Latenter Antisemitismus"

31,7

38,0

27,3

30,7

12. Mir ist das ganze Thema "Juden" irgendwie unangenehm.

Faktor 3

"Latenter Antisemitismus"

3,6

7,4

2,9

5,2

13. Was ich über Juden denke, sage ich nicht jedem.

Faktor 3

"Latenter Antisemitismus"

13,1

15,9

12,1

16,0

Tab. 1: Antisemitische Einstellungen; Zustimmung zu den Items (aussagen) in Prozent

Die Zustimmungen zu den manifest antisemitischen Äußerungen sind - wie es die Tabelle 1 illustriert - durchweg relativ niedrig und liegen (bis auf zwei Ausnahmen; Zustimmung der ostdeutschen männlichen Jugendlichen zu Item 6 und 7) unter der 10-Prozent-Grenze. Das sollte sicher optimistisch stimmen. Auffallend sind allerdings wiederum die Unterschiede zwischen den ostdeutschen und westdeutschen Jugendlichen. Ob diese Befunde auf die ausgeprägteren manifesten antisemitischen Einstellungen der ostdeutschen Jugendlichen verweisen oder auf die größere Zurückhaltung der westdeutschen Jugendlichen, sich in der "Fragebogen-Öffentlichkeit" als Antisemiten zu outen (im Sinne einer sozialen Erwünschtheit), muß zunächst einmal offen bleiben. Aus den Zustimmungen zu den Items, mit denen wir "Latenten Antisemitismus" (im Sinne besagter Kommunikationslatenz) zu erfassen versuchten, lassen sich keine eindeutigen Hinweise ableiten, um diese Frage zu beantworten.

Auffallend sind hingegen die relativ hohen Zustimmungen zu jenen Items, die sich auf die dritte Subdimension unseres Konstrukts "Antisemitismus", auf die "Verantwortung gegenüber den Juden" beziehen (die Items 8, 9 und 10). Fast ein Drittel der Jungen in Ost und West stimmt der Äußerung zu, daß über die Judenverfolgung nicht mehr so viel geredet und statt dessen endlich ein Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen werden sollte (Item 10). Überdies stimmen im Mittel nur ca. 20% aller Jugendlichen zu, daß das deutsche Volk auch heutzutage eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden habe (Item 8).

Wie bereits ausgeführt, erwies sich in konfirmatorischen Faktorenanalysen, daß die Annahme korrelierter Faktoren sinnvoll ist. Hohe Werte von manifestem Antisemitismus gehen mit hohen Kommunikationslatenzwerten einher (r=.51). Dieser Zusammenhang widerspiegelt sich in der folgenden Kreuztabelle, in der die Verteilung in den jeweiligen Quartilen wiedergegeben ist:

Tab. 2: Kreuzvergleich "manifester/latenter Antisemitismus"

Ebenso wie in den Untersuchungen von Bergmann und Erb (1991, S. 505) fanden auch wir, daß der Anteil der Antisemiten mit zunehmender Kommunikationsscheu (also mit zunehmendem latenten Antisemitismus) stark zuzunehmen scheint. Während nur 0,9% der befragten Jugendlichen mit relativ ausgeprägten manifest antisemitischen Einstellungen niedrige Werte in der Dimension "Latenter Antisemitismus" aufweisen, zeigen 13,2% gleichzeitig hohe Werte im manifesten und latenten Antisemitismus. Verallgemeinert könnte man mit Bergmann und Erb (1991) vermuten, Jugendliche, die sich in einer Befragungssituation ausgeprägt manifest antisemitisch äußern, würden ihre antisemitischen Einstellungen und Vorurteile in der Alltags-Öffentlichkeit eher für sich behalten. Gleichwohl nehmen diese Jugendlichen an, auch andere würden sich wie sie verhalten (Item 11) und ihre "wirkliche Meinung" über Juden aufgrund sozialen Drucks nicht öffentlich äußern.

Welche Rolle spielt nun aber die Dimension der Verantwortungsabwehr im Vergleich zu den Dimensionen latenter und manifester Antisemitismus? Die deutlichste Besonderheit besteht in der größeren Varianz der Antworten auf diesen Fragenkomplex. Füllt man dieses statistische "Zeichen" mit Inhalt, könnte man die höhere Varianz mit einem größeren Diskussionsbedarf übersetzen; oder aber mit einem weniger wirksamen gesellschaftlichen Tabu, als dies bei manifestem Antisemitismus der Fall zu sein scheint.

Im Mittelwertsvergleich der Bundesländer hinsichtlich dieser Dimension zeigt sich zunächst ein graphischer Unterschied, der allerdings nur zwischen den Ländern Brandenburg und Bayern auf dem 5%-Niveau signifikant ist.

Abb. 1: Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden
(Mittelwertsvergleich zwischen den Bundesländern)

Was steckt aber hinter der Verantwortungsablehnung? Drückt sich in der Zurückweisung von Verantwortung gegenüber den Juden der alte Antisemitismus in Deutschland - nun allerdings in neuem Gewande - aus oder sollte man eher sagen, die deutsch-jüdischen Beziehungen haben dadurch, daß sie nicht mehr mit dem Verantwortungsgefühl gegenüber den Verbrechen der Vergangenheit beladen werden, endlich das normale Maß des Umgangs zwischen verschiedenen Völkern erreicht? Hängt eine derartige Zurückweisung gar mit der Dimension der Ausländerfeindlichkeit zusammen?

Die Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden haben wir konzeptionell als eine Dimension unserer abhängigen Variable "Antisemitismus" gefaßt. Dieses Konstrukt ist damit integraler Bestandteil dieses Komplexes. Dennoch wollten wir noch genauer hinterfragen, wie sich die Übernahme oder aber die Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden aus den anderen Teildimensionen (manifester Antisemitismus und Kommunikationslatenz) und aus der Dimension der Ausländerfeindlichkeit (erhoben mit einer Skala zur Ausländerfeindlichkeit; s. Anhang) erklären läßt. Diese Fragestellung ist nicht trivial; in ihrer Beantwortung liegt auch ein wichtiger Schlüssel für die Frage, ob es sich beim modernen Antisemitismus um ein Konstrukt handelt, das von Fremdenfeindlichkeit unterscheidbar ist, oder aber ob beide Konstrukte austauschbar sind. Die im folgenden dargestellte Regressionsanalyse ging dieser Frage nach.

Das Ergebnis gibt uns recht; es lohnt sich, die Frage überhaupt zu stellen. In der dargestellten Regressionsanalyse zeigt sich, daß sich die Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden aus manifestem und latentem Antisemitismus(statistisch) erklären läßt. Vor allem aber die Ausländerfeindlichkeit erweist sich als signifikanter Prädiktor.

Tab. 3: Regressionanalyse "Ablehnung von Verantwortung gegenüber Juden"

Man könnte auch sagen: Nicht mehr über die Schuld der Deutschen gegenüber den Juden nachdenken, endlich einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen und keine besondere Verantwortung gegenüber den Juden zeigen - all das scheint auch zu den Facetten antisemitischer Einstellungen von Jugendlichen zu gehören. Die Zurückweisung von historischer Verantwortung ist vielleicht ein Teil der neuen oder neu gewendeten alten antisemitischen Mythen.

Unsere Befunde, die, und das sollte man nicht übersehen, Ergebnisse einer Jugendstudie sind, sprechen zunächst einmal dafür, daß es nach wie vor antisemitische Einstellungen und Vorurteile unter deutschen Jugendlichen gibt. In der Ablehnung von Verantwortung gegenüber den Juden spiegelt sich möglicherweise auch eine neue Form von Antisemitismus wider. Aber: Wenn sich Jugendliche heute in Deutschland antisemitisch äußern, tun sie dies - und darauf verweisen auch die Ergebnisse der Regressionsanalyse - meist im Kontext einer allgemeinen Ausländerfeindlichkeit. Jugendlicher "Antisemitismus nach Auschwitz" ist kein Antisemitismus ohne "Objekte". Der neue Antisemitismus ist Teil der Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit. Das Tabu, sich nicht antijüdisch zu äußern, wird von Jugendlichen gebrochen, und scheinbar beliebig greifen sie auf die Mythen des Antisemitismus zurück, um ihre Abneigung gegenüber Fremden auszudrücken. Damit gehört der Antisemitismus zu jenen sozialen Konstruktionen über soziale Konstruktionen, mit denen die Konstrukteure (die Antisemiten und Fremdenfeinde) sich selbst konstruieren.

Nächster Teil: Literatur

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