Jüdisches Leben:
Wien ohne Juden
Die Israelitische Kultusgemeinde in Österreich steht vor
dem Bankrott. Die Regierung weigert sich zu helfen...
Thomas Schmidinger (Wien)
Seine Regierung sei nicht bereit, »abgetakelte Mossad-Agenten zu
subventionieren«, soll der österreichische Bundeskanzler dem US-Vermittler in
Restitutionsfragen, Stuart Eizenstat, gesagt haben. Der Präsident der
Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, Ariel Muzicant, verlangte daraufhin in
der vergangenen Woche eine Entschuldigung von Wolfgang Schüssel. Die Sprecherin
des Kanzlers, Heidi Glück, wollte die Aussagen nicht kommentieren, erklärte
aber, das Zitat stamme nicht von Schüssel.
Eizenstat hatte den Kanzler bei einem Gespräch vor zwei Wochen darauf
hingewiesen, dass die Finanzprobleme der Kultusgemeinde gelöst werden müssen.
Die Regierung weigert sich, Geld für die Kultusgemeinde und die Sicherheit
jüdischer Einrichtungen bereitzustellen oder auch nur Gespräche darüber zu
führen. »Schüssel gibt uns das Gefühl, dass sein Ziel die Liquidation dieser
Gemeinde ist«, erklärte Muzicant.
Sollte Österreich den verbliebenen jüdischen Gemeinden – neben der IKG Wien, in
der rund 90 Prozent der österreichischen Jüdinnen und Juden Mitglied sind, gibt
es noch sehr kleine Gemeinden in Innsbruck, Salzburg, Linz, Graz und Baden bei
Wien – nicht bald unter die Arme greifen, droht tatsächlich ihr Ende. Muzicant
gab bereits bekannt, dass dann »am 1. Juli mit der Liquidation der
Gemeindestruktur begonnen« werde. Sechs Jahrzehnte nach dem Holocaust ist die
Gemeinde finanziell am Ende und gezwungen, etliche Angebote wie Schulen,
Synagogen, Religionsunterricht, kulturelle und soziale Einrichtungen zu
schließen. »Dies ist der Anfang vom Ende der wieder aufgebauten Gemeinde.
Innerhalb weniger weiterer Jahre werden vor allem junge Gemeindemitglieder
auswandern. Wien ist dann (wieder) ›eine Stadt ohne Juden‹«, heißt es in einer
Mitteilung der IKG.
Vor der Shoa zählten die damals 34 jüdischen Gemeinden Österreichs zu den
geistigen Zentren des europäischen Judentums. Wien, das besonders während der
Zeit der Monarchie einen steten Zuzug religiöser Jüdinnen und Juden aus Galizien
zu verzeichnen hatte, war lebendiger Mittelpunkt des jüdischen Lebens. Während
die ländlichen Gemeinden schon in den ersten Monaten nach dem »Anschluss«
Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 von den NS-Behörden geschlossen
und ihre Mitglieder in Wien »konzentriert« wurden, unterstellte man die IKG Wien
dem Referenten für »Judenangelegenheiten« im Reichssicherheitshauptamt, Adolf
Eichmann. Sie war damit eingezwängt zwischen den Forderungen Eichmanns und dem
Versuch, möglichst vielen Jüdinnen und Juden das Leben zu retten, und diente als
Übungsfeld für die nationalsozialistische »Judenpolitik«. Nach der Auflösung der
Kultusgemeinde und der Installation eines jüdischen »Ältestenrates« im Jahre
1942 blieben bis 1945 einzelne vor allem in der Fürsorge aktive Institutionen
bestehen, die voll und ganz unter der Kontrolle von NS-Stellen standen. Die
jüdischen Mitarbeiter versuchten in vielen Fällen, durch eine taktische
Zusammenarbeit mit ihren Verfolgern Leid zu lindern und Menschenleben zu retten.
Nur wenige Mitglieder der IKG, die in der Illegalität, in »Mischehen« oder
teilweise als Mitarbeiter der verbliebenen jüdischen Institutionen ihrer
Vernichtung entgingen, haben die Befreiung im Jahr 1945, gesundheitlich oft
schwer angeschlagen, noch erlebt. Vom Vermögen der Gemeinden war kaum mehr etwas
übrig, nur ein Teil der ehemaligen Liegenschaften wurde nach 1945 der
Kultusgemeinde zurückgegeben. Die sich wieder konstituierende IKG glaubte nach
allem, was geschehen war, nicht an eine dauerhafte Existenz einer jüdischen
Gemeinde in Österreich. Vielmehr sah sie sich als Liquidatorin, die die
Auswanderung der verbliebenen Juden und jüdischer Displaced Persons organisieren
sollte.
Da verwundert es kaum, dass die Gemeinde in den fünfziger, sechziger und
siebziger Jahren immer wieder etwas von den teilweise rückerstatteten
Liegenschaften an die Gemeinde Wien verkaufte, um ihre laufenden Ausgaben
bestreiten zu können. Verschlimmert wurde die finanzielle Not noch dadurch, dass
die über Jahrzehnte hinweg von Sozialdemokraten regierte Kultusgemeinde viele
ihrer Immobilien zu weit niedrigeren als den ortsüblichen Preisen an deren
Parteifreunde in der Wiener Stadtverwaltung verkaufte, was immer wieder zu
scharfer Kritik mancher Mitglieder führte. Erst unter den von Parteien
unabhängigen IKG-Präsidenten Paul Grosz und Ariel Muzicant wurde dieser
Ausverkauf Ende der achtziger Jahre beendet.
Notwendig wurden die Verkäufe jedoch einzig wegen der mangelhaften Entschädigung
nach 1945. Mit Ausnahme der Rückgabe von zerstörten Synagogen und verwüsteten
Liegenschaften sowie der Zahlung von 13,2 Millionen Euro an die Israelitische
Religionsgemeinschaft hat die Republik Österreich bis heute das Gemeindevermögen
weder restituiert noch entschädigt. Auch der vor wenigen Wochen veröffentlichte
Bericht einer Historikerkommission macht auf die Mängel der bisherigen
Restitution aufmerksam.
Dabei wurden die Ausgaben der Gemeinde in den vergangenen Jahren nicht geringer.
Jahrelang hatte sie unter schwindenden Mitgliederzahlen zu leiden, musste aber
trotzdem ihre Angebote aufrechterhalten. Jüdische Einwanderung aus der
ehemaligen Sowjetunion führte erst in den neunziger Jahren wieder zu einem
Anstieg der Mitgliederzahl, was neue Aufgaben im Bereich des jüdischen
Schulwesens, der Erwachsenenbildung und der sozialen Institutionen mit sich
brachte. Die Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR verfügen heute über eine
eigene sephardische Synagoge und eine eigene Jugendorganisation. So erfreulich
diese Entwicklung für die Kultusgemeinde auch ist, so sehr belastet sie auch ihr
Budget, das durch die Beiträge der meist einkommensschwächeren Neuzuwanderer
nicht ausgeglichen werden kann.
Zudem mussten in den letzten Jahren die Sicherheitsvorkehrungen für eine Reihe
jüdischer Einrichtungen verstärkt werden, da der zunehmende Antisemitismus auch
für die österreichischen Jüdinnen und Juden eine wachsende Gefahr wurde und ist.
Auch diese Sicherheitsmaßnahmen muss die IKG selbst bezahlen.
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Muzicant meinte der stellvertretende
Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland und Präsident des European
Jewish Congress, Michel Friedman, Anfang Mai: »Wir befinden uns in einer völlig
perversen Situation.« Die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen seien nötig, weil es
Österreicher gebe, die Antisemiten seien, und sich die österreichischen Juden
von verbalen und physischen Angriffen bedroht sähen. Und dann würden die Juden
zum zweiten Mal bestraft, weil sie ihre Sicherheit selbst bezahlen müssten.
www.jungle-world.com
Jungle World (Nummer 22 vom 21.Mai 2003)
kt /
hagalil.com
/ 2003-05-22
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