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SS-Scharführer als ehrenwerter Bürger:
Ein offenes Geheimnis

Der Feinkosthändler Gustav Wolters ist ein hoch geachteter Bürger im niedersächsischen Stade. Auch zum Bundeskanzler pflegte er Kontakte. Früher war er SS-Scharführer...

Uwe Ruprecht

Alljährlich treffen sich die Mitglieder der Bruderschaft St. Pankratii in Stade zum Festmahl und bewerfen sich gegenseitig mit Papierkügelchen. Ertappt ein Getroffener den Werfer, muss dieser ein Strafgeld zahlen. Die Summe, die dabei zusammenkommt, wird an Arme verteilt. 1956 wurde auch der Feinkosthändler Gustav Wolters in die ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen. Einer seiner Mitbrüder ist Horst Eylmann, Rechtsanwalt und ehemaliger rechtspolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion.

Im Jahr 1994, als die Stadt ihre tausend Jahre zurückliegende erstmalige schriftliche Erwähnung beging, war Gustav Wolters Ehrengast der Feierlichkeiten. Vier Jahre vorher begegnete er beim so genannten Tag der Niedersachsen dem soeben gewählten Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. Mehrmals traf Schröder, wenn er in Stade weilte, seither Gustav Wolters zum »Klönschnack«, zur Plauderei. In Wolters’ Feinkostladen, der sich seit 1931 rechts neben dem Rathaus befand, hing bis zuletzt ein Foto des mittlerweile zum Kanzler Aufgestiegenen.

Im Juni 2002 gab Wolters, inzwischen 94 Jahre alt, sein Geschäft auf. Die Lokalpresse feierte ihn, und man kam auf die Idee, ihm ein Schreiben des Bundeskanzlers zu besorgen. Nach der entsprechenden Anfrage erkundigte sich das Kanzleramt im Stader Rathaus, ob etwas gegen ein solches Schreiben spräche. Nein, hieß es aus Stade, und so wurde der Brief geschrieben und Wolters vom Bürgermeister Hans-Hermann Ott (CDU) übergeben. Den Wortlaut des Schreibens will das Kanzleramt nicht verraten, denn inzwischen hat man die Brisanz des Vorgangs erkannt. Auch Wolters lehnt es ab, den Inhalt preiszugeben. Das könne dem Kanzler schaden, sagte er.

Das Kanzleramt wurde vom Stader Rathaus getäuscht. Denn in der Stadt war es »ein offenes Geheimnis«, dass Gustav Wolters ein Massenmörder ist, wie der Historiker Hartmut Lohmann bereits Ende der achtziger Jahre feststellte. Von Juni 1941 bis November 1942 gehörte Wolters dem Einsatzkommando 9 (EK 9) der Einsatzgruppe B an. Mit den Massenerschießungen der Einsatzgruppen hinter Ostfront begann im Sommer 1941 die »Endlösung der Judenfrage«.

Der SS-Scharführer arbeitete im »Polizeireferat«, das die Exekutionen vorbereitete, die Opfer selektierte und über die Bluttaten Buch führte. Die Bilanzen des Todes hießen »Ereignismeldungen«. 11 449 Opfer wurden von Juni bis Oktober 1941 vom EK 9 dem Reichssicherheitshauptamt gemeldet. In einem Urteil aus dem Jahr 1962 nannte das Landgericht Berlin die juristisch gesicherte Zahl von 6 800 Toten; in seiner mündlichen Begründung schätzte der Vorsitzende Richter Meyer die Zahl jedoch auf 15 000 Tote.

Nach Feststellungen desselben Gerichts wurde Wolters bei mindestens zwei Massakern im weißrussischen Witebsk im August 1941 als Schütze eingesetzt. Wegen der angeblichen »Teilnahme an drei Exekutionen beim EK 9« wurden nach Auskunft des Bundesarchivs in Ludwigsburg gegen ihn Ermittlungen aufgenommen, die von der Staatsanwaltschaft in Stade im Jahre 1966 jedoch eingestellt wurden.

Nach seinem Dienst in Reinhard Heydrichs Todesbrigaden wurde Wolters zur Gestapo nach Hannover-Ahlem versetzt. Hier gehörte er zur berüchtigten »Ausländerabteilung«, die Zwangsarbeiter folterte und ermordete. Am 6. April 1945, vier Tage bevor die US-Armee Hannover einnahm, wurden auf dem Seelhorster Friedhof 154 zumeist sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter erschossen. Freiwillig dabei war Gustav Wolters. Dafür wurde er 1947 von einem Militärgericht in Braunschweig zu 13 Jahren Haft verurteilt. Bereits 1950 wurde er »wegen guter Führung« begnadigt.

Bekannt wurde der Fall Wolters nun im vergangenen Jahr durch einen Artikel in der konservativen Lokalzeitung Stader Tageblatt. Anlässlich der in diesem Mai in ganz Niedersachsen stattfindenden israelischen Kulturwochen kam aus der Stadtverwaltung die Idee, einen Vortrag über die ehemalige Israelitische Gartenbauschule in Ahlem ins Programm zu nehmen. Keine Rede sollte davon sein, dass sich auf dem Gelände der Gartenbauschule einst eine Dienststelle der Gestapo befunden hatte, in der Gustav Wolters tätig gewesen war.

Mit diesem Umgang mit der Geschichte war der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Stade, Peter Meves, nicht einverstanden und er riet, den Vortrag abzusagen. Doch weil Meves fast fünf Jahre lang in Stade für die Errichtung zweier Stelen zum Gedenken an die einheimischen Opfer des Holocaust stritt, ist er bei den Verantwortlichen und einigen anderen in der Stadt verhasst. Im November 2002 unterstellte man ihm im Stader Tageblatt: »Wie dem Tageblatt aus Insider-Kreisen zugetragen wurde, hat Meves angekündigt, während des Vortrages, den Historiker aus Hannover halten sollten, den Namen des heute 94jährigen Kaufmanns öffentlich zu machen.«

Daraufhin schrieben einige Bürger Leserbriefe, die die Rolle des Feinkosthändlers im »Dritten Reich« ansprachen, bis die Zeitung die Lawine, die sie selbst losgetreten hatte, zu stoppen versuchte. Sie lehnte den Abdruck eines Briefs mit der Begründung ab, er könne »üble Nachrede« enthalten, weil Wolters’ Teilnahme an Erschießungen durch das EK 9 erwähnt wurde. Seither schwelt in Stade der Konflikt, aber die Stadtverwaltung, viele Politiker und die Lokalpresse haben sich zu einer großen Koalition des Schweigens zusammengeschlossen, um Gustav Wolters vor der Konfrontation mit seiner Geschichte zu bewahren.

Auf Vorhaltungen in einer Einwohnerfragestunde des Stadtrats am 17. März, warum man denn den Massenmörder mit einem Brief des Bundeskanzlers beehrt habe, verweigerten der Bürgermeister Ott und der Rat die Antwort, weil damit die »Persönlichkeitsrechte« von Wolters »verletzt« würden.

www.jungle-world.de
Jungle World (Nummer 20 vom 07. Mai 2003)

DG / hagalil.com / 2003-05-09

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