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Judentum und Israel
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17. Juni 1953:
Auf der anderen Seite der Barrikade

Der "Volksaufstand" vom 17. Juni 1953 und die Juden...

Karin Hartwig

Am Abend des 16. Juni hatten dreitausend SED-Funktionäre am kurzfristig einberufenen Parteiaktiv teilgenommen. Mit der Ermahnung "Morgen tiefer in die Massen!" waren die Agitatoren von Ulbricht in die Nacht entlassen worden. Die Genossen hatten nach der Veranstaltung die "Internationale" angestimmt und sich vom Berliner Friedrichstadtpalast aus zu einem Demonstrationszug formiert. Alexander Abusch und Klaus Gysi - beide wurden später Kulturminister der DDR - waren im Auto vorausgefahren, um sich ihm auf der Höhe des Zeughauses anzuschließen. Aus dem Fahrzeug heraus - geschützt und gefangen zugleich - wurden sie Zeugen einer Massenschlägerei zwischen "guten" Genossen und einer anrückenden Kolonne von jungen Radfahrern, die sofort als Provokateure aus dem Westen identifiziert wurden. Im Gedächtnis der beiden jüdischen Kommunisten verknüpfte sich die Szene nächtlicher Gewalt mit Ereignissen, die über dreißig Jahre zurücklagen. Die jungen Westberliner erinnerten Abusch an die Freikorps im Frühjahr 1920 und an den Fackelzug der SA im Januar 1933.

Auch zu den legendären Bauarbeitern der Stalinallee gingen die Funktionäre auf Distanz. Bis dahin waren sie besonders klassenbewußte Arbeiter an der Schaumeile des Sozialismus gewesen. Doch nun bildeten sie die Vorhut des Aufstands. Die "Helden" rissen sich gewissermaßen die Maske vom Gesicht und offenbarten ihre feindliche Haltung: zum Vorschein kam der Faschist und Mitläufer von gestern. Nicht nur Funktionäre wie Abusch oder Kurt Barthel dachten so. Der parteilose Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Leipzig, Eugen Gollomb, der Auschwitz überlebt hatte, wurde beim Anblick von verprügelten SED-Mitgliedern, die das Parteiabzeichen trugen, von Ängsten heimgesucht, daß der Aufruhr zuletzt in den Gaskammern enden könnte. Der Neubürger Stefan Heym, der erst Anfang der fünfziger Jahre aus den USA in die DDR übergesiedelt war, fühlte sich in seinem sozialistischen Wunschbild erschüttert. Ihm war am 17. Juni ähnlich zumute wie in der Ardennenschlacht, beim Durchbruch der Nazis. Er verspürte vor allem Empörung über "die Deutschen". Und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer erinnerte noch Jahre später ein diffuses Glücksgefühl über die Rückkehr zur bürokratischen Tagesordnung nach der Niederschlagung des Aufstands.

Auch die literarischen Verarbeitungen des 17. Juni sprechen vom Trauma der Verfolgung. In Jurek Beckers Roman Der Boxer ist der Hauptfigur Aron an der Beibehaltung des Status quo gelegen, weil sich der Haß wieder gegen die Juden richten könnte.

Juden in der DDR nahmen den eskalierenden Aufruhr in spezifischer Weise als Gefahr wahr. Er galt ihnen weniger als Ausdruck eines Freiheitswillens, sondern als Vorbote des Unheils. Kommunisten jüdischer Herkunft und parteilose Juden dachten an mögliche Pogrome. Was sie sahen, fügte sich nahezu bruchlos in die kollektive jüdische Erfahrung ein. Die Ereignisse evozierten Erinnerungen: Bilder der "Machtergreifung", Bilder der "Kristallnacht", zeitlose Bilder vom Judenhaß. Der Volksaufstand weckte spontane Ängste. Er führte die Urszenen der Verfolgung vor Augen. Für jüdische Kommunisten rückte das Objekt ihrer assimilatorischen Sehnsucht - die Arbeiterklasse, das Volk - in schmerzliche Entfernung.

Keiner von ihnen schloß sich den Demonstranten an. Die gewerkschaftlichen Forderungen nach Rücknahme der Normerhöhungen waren augenblicklich diskreditiert durch die Verwandlung der Arbeiterklasse in eine feindliche, streikende Masse. Jüdische Kommunisten standen auf der anderen Seite der Barrikade.

Der 17. Juni war für sie Schlußakkord und Zäsur: Bis 1949 hatten die Remigranten und Überlebenden versucht, die Erschütterungen ihres marxistischen Weltbildes zu verarbeiten. Die Nachrichten vom Völkermord an den Juden hatten vor allem unter den Westemigranten die ökonomistische Faschismusanalyse ins Wanken gebracht und auch die biographische Entscheidung zum Kommunismus in Frage gestellt. Nur mühsam und mit inneren Konflikten gelang ihnen die Integration in die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Andererseits gehörten Kommunisten jüdischer Herkunft bald zu den ersten Patrioten des zweiten deutschen Staates. In der neuen politischen und kulturellen Elite waren sie zahlreich vertreten. Da die SED bei der Besetzung von Ämtern dringend auf Professionalität angewiesen war, stand es um die Karrierechancen der Remigranten und Überlebenden nicht schlecht. Als Partei- und Kulturfunktionäre, ergebene Juristen, Diplomaten, Außenhandelsexperten, Journalisten und Künstler liehen sie einem kleinen Teilstaat von zweifelhafter Legitimität, beschränkter Souveränität und fehlender Anerkennung ihre Stimme.

Doch zur selben Zeit begannen die Säuberungen, die erst mit Stalins Tod zu einem Ende kamen. Die Moskauer Politemigranten konstruierten eine verdächtige Erfahrungsgemeinschaft: die Westemigranten. Betroffen waren vor allem jüdische Genossen. Sie galten als infiziert mit dem Lebensstil und dem politischen Denken des Westens. Als mutmaßliche Agenten des amerikanischen Imperialismus wurden Funktionäre aus Führungspositionen abgezogen und zum Teil verhaftet.

Im Herbst 1952 gerieten jüdische Kommunisten in die antizionistische Kampagne. Zwar wurde in der DDR mit Paul Merker ein Nichtjude zum Hauptangeklagten eines Geheimprozesses ausgewählt. Dennoch befanden sich jüdische Kommunisten in der prekären Defensive. Im Kern lautete der Vorwurf, jüdische, bürgerliche "Elemente" hätten die Arbeiterpartei infiltriert. Ihre Pläne einer Vermögensrestitution an Überlebende des Holocaust und an ihre Nachkommen galten ebenso wie Reparationen an Israel als Ausverkauf von Volksvermögen. Die Flucht von über fünfhundert Juden - darunter fast allen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden -, war aus Sicht der SED ein untrüglicher Beweis für den Verrat. Kurz vor ihrer Enttarnung entlarvten sich die mutmaßlichen Agenten durch ihre Flucht selbst.

Doch der Zionismusverdacht trieb nur wenige jüdische Parteifunktionäre außer Landes. Die meisten blieben, kooperierten und versuchten, sich vom unsichtbaren gelben Fleck durch Selbstkritik oder Denunziation zu reinigen. Wiederholt bekräftigten sie die biographische Entscheidung ihrer Jugend für die rote Assimilation. Wer die antizionistischen Säuberungen politisch degradiert oder kaltgestellt, aber physisch unversehrt überlebt hatte, dem war nur wenig später, am 17. Juni, Gelegenheit zur Bewährung gegeben. Der Volksaufstand schmiedete jene affektive Loyalität mit der SED, die sich auch künftig bewähren sollte.

Mit umso größerer Verve führten jüdische Kommunisten nach 1953 den Kampf gegen die bürgerliche Demokratie. Der Antifaschismus, der in der DDR nun endgültig zur Staatsdoktrin geworden war, machte ehemalige Nazis und Militaristen ausschließlich in der Bundesrepublik aus. Die Konstellation komplementärer Zweistaatlichkeit wirkte psychologisch und ideologisch überaus entlastend. Und sie machte es jüdischen Kommunisten leichter, sich überhaupt als Deutsche fühlen zu können.

www.juedische-allgemeine.de
Jüdische Allgemeine vom 18.06.2003

DG / hagalil.com / 2003-06-19

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