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Migranten in Deutschland:
Die Zukunft des Damals

Eine Studie untersucht den Umgang junger Migranten mit der deutschen Geschichte...

Anke Schwarze

Rund acht Millionen Einwanderer leben in Deutschland, viele von ihnen in der zweiten und dritten Generation. Diese veränderte Bevölkerungsstruktur könne nicht ohne Auswirkung auf Geschichtsbilder und -bewusstsein bleiben, glaubt Viola Georgi. »Ein beachtlicher Teil der heute in Deutschland lebenden jungen Menschen verfügt über Familien- und Kollektivgeschichten sowie über tradierte historisch-politische Erfahrungen, die sich von den ›deutschen‹ unterscheiden«, konstatiert sie.

Für die Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin war das der Grund, die Geschichtsbezüge junger Migranten zu untersuchen. Die Frage, wie sich die deutsche Erinnerungsgemeinschaft erweitern lässt und ob von Migranten überhaupt erwartet werden kann, dass sie sich das »negative historische Eigentum« (Jean Améry) des Aufnahmelandes aneignen, ist keinesfalls nur ein theoretisches Problem. Bereits im schulischen Alltag stellt sich das Thema jeden Tag. Das gilt nicht nur für das Lernen von historischem Stoff, sondern auch für die affektive Auseinandersetzung mit Zeitzeugenberichten oder für den Besuch von Gedenkstätten. Auf einer Fahrt nach Theresienstadt beispielsweise fühlt sich Bülent, 16 Jahre, Sohn türkischer Einwanderer, von einer Gruppe Mädchen ausgegrenzt. Deren Satz, »du als Ausländer, du hast doch keine Ahnung«, verletzt ihn, da er unterstellt, er könne die Judenvernichtung aufgrund seiner Herkunft nicht nachvollziehen.

Georgi hat im Zeitraum von 1997 bis 1999 Interviews mit Migranten zwischen 15 und 20 Jahren geführt, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder sie anstreben. Die Untersuchung interessierte sich dabei weniger für das Wissen über die NS-Geschichte als für den Umgang damit und für die subjektiven »Geschichtsgeschichten«. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Interviewten die Ereignisse bewerten.

Anhand der 32 ausführlichen Fallanalysen bildet Georgi vier Typen der Aneignung von NS-Geschichte und Holocaust: Der erste Typ nehme eher die Sozialperspektive der Opfer des Nationalsozialismus ein, wie Ram, geboren in Deutschland als Sohn indischer Einwanderer, die nun, nach 20 Jahren, wegen des ausländerfeindlichen Klimas remigrieren wollen. Der 16jährige sagt: »Meine Hautfarbe ist wie ein Davidstern.« Er verweist damit auf seine Erfahrung der Stigmatisierung und setzt sie gleich mit den Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung während des Nationalsozialismus.

Die zweite Typengruppe orientiert sich an den Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus. Empathisch werde versucht nachzuvollziehen, weshalb die Deutschen zu willigen Vollstreckern wurden, so Georgi. Daraus ergebe sich in der Regel eine Verstrickung in die dominanten Vergangenheitsdiskurse der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Es herrschte Befehlsnotstand, Deutsche hätten von nichts gewusst, die Juden seien reich gewesen und hätten deshalb den Neid auf sich gezogen, außerdem habe der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten gehabt. Diese und ähnliche Mythen würden von Jugendlichen reproduziert, die Georgi Migranten des zweiten Typs nennt. Der dritte Typ zeichnet sich durch seinen Fokus auf die eigene (ethnische) Gemeinschaft aus, etwa Leas Bezug auf ihre polnisch-jüdische Familie. Das Desinteresse ihrer Mitschüler am Holocaust empfindet sie fast als Zurückweisung ihrer Person. Die Biografien jüdischer Überlebender lese sie mit großem Interesse, aber sich mit der Täterseite auseinanderzusetzen, sei für sie uninteressant und ohne Erkenntnisgewinn. Auch die Sicht des 17jährigen Dragan auf die NS-Zeit ist geprägt von seiner Familliengeschichte. Seine jugoslawischen Großeltern hatten sich während der deutschen Beatzung den Partisanen angeschlossen. Eine Instrumentalisierung erfahre die NS-Geschichte, wenn die Bezugnahme auf dessen Opfer ausschließlich der Dramatisierung der Situation der eigenen Gruppe diene, etwa im Fall des 16jährigen Muhrat, der die Leidensgeschichte der Kurden auf der Folie der Geschichte des Holocaust abbilde.

Der vierte Typ schließlich orientiere sich vornehmlich an universalistischen Fragestellungen, etwa danach, wie Menschen zu Opfern, Tätern oder Mitläufern werden konnten und können. Der Holocaust stehe hier für den Zivilisationsbruch, für das Äußerste an Grausamkeit und Schrecken, das sich, weil es geschehen ist, auch andernorts wiederholen könne. Aus dem Wissen über die Abgründe der Menschheit leitet beispielsweise Laila aus Eritrea die Verpflichtung ab, gesellschaftspolitische Verantwortung zu übernehmen.

Mit »Entliehene Erinnerung« hat Georgi eine sehr interessante Studie vorgelegt; insbesondere die Ausführungen zum Geschichtsbewusstsein und zum Verhältnis von ethnischer und historischer Identität beeindrucken. Ihre Überlegungen, wie Geschichtsbewusstsein überhaupt untersucht werden kann, sind überaus aufschlussreich. Ihre Vorgehensweise könnte auch für Interviews mit Jugendlichen, die deutsche Eltern haben, erhellend sein. Diese miteinzubeiziehen hätte vielleicht auch den Eindruck vermeiden können, es gebe ein homogenes deutsches Geschichtsbild, das sich von dem der Einwanderer klar unterscheide. Selbstverständlich ist ein dominanter Verdrängungs- und Schuldabwehrdiskurs in Deutschland unübersehbar, aber dieser unterschlägt ja gerade andere historische Erzählweisen und »Geschichtsgeschichten«, beispielsweise von deutschen Jugendlichen aus jüdischen oder kommunistischen Familien.

So stellt Georgi am Ende fest, dass die Bedeutung des nationalkulturellen Hintergrundes für die Aneignung der NS-Geschichte eher gering ist. Bemerkenswert ist aber, dass der Status »Ausländer« für die Strategien der Selbstpositionierung der jungen Migranten im Kontext der Geschichte der deutschen Aufnahmegesellschaft besonders relevant ist. So ist auffällig, dass einige junge Migranten auf Auslandsreisen, wenn sie mit einem negativen Deutschlandbild konfrontiert werden, bestrebt sind, ein gutes Wort für die Deutschen einzulegen, Entschuldigungsgründe für den Nationalsozialismus anzuführen und deutsche Jugendliche in Schutz zu nehmen (»Die können nix dafür«) – insbesondere dann, wenn sie eine deutsche Staatsbürgerschaft anstreben.

Inwieweit der Nationalsozialismus aus Sicht jugendlicher Einwanderer überhaupt ein bedeutsames historisches Ereignis ist, auf das sie sich beziehen – und nicht vielleicht der Kolonialismus, die Auflösung der Sowjetunion oder der Sklavenhandel –, lässt sich leider anhand der Untersuchung nicht ermitteln, da ein gewisses Interesse am Nationalsozialismus bei den Befragten vorausgesetzt wurde.

Die Ergebnisse zeigen, dass das Geschichtsbewusstsein junger Migranten vielgestaltig ist und sich keineswegs in ein grobes Raster von antisemitisch/nicht antisemitisch oder autoritär/antiautoritär pressen lässt. In fast allen Interviews klinge allerdings eine Tendenz an, die der israelische Soziologe Nathan Sznaider und sein amerikanischer Kollege Daniel Levy als »Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust« bezeichnen, so Georgi. Diese Entwicklung, bei der die Erinnerung an den Holocaust entkontextualisiert wird, birgt die Gefahr, dass eine Täter-Opfer-Inversion stattfindet, z.B. bezogen auf den Nahostkonflikt.

Die beiden Autoren bewerten eine verallgemeinerte Erinnerung jedoch positiv, da der Holocaust dadurch »zugänglicher« werde. Auf diese Weise würden die jüdischen Opfer zu Opfern schlechthin. So würde vielen Opfergruppen erlaubt, sich in den jüdischen Opfern von einst wiederzuerkennen. Damit werde der Holocaust als singuläres Ereignis »vergleichbar« und würde so zu einem universalen Orientierungspunkt für die Einordnung und Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen.

Viola B. Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburger Edition, Hamburg 2003, 350 S., 30 Euro

Jungle World
Jungle World Nummer 48 vom 19.11.2003

kt / hagalil.com / 2003-11-19

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