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Judentum und Israel
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Istanbul:
Tod am Sabbat

Die Attentate auf die jüdischen Synagogen in Istanbul deuten auf Islamismus. Aber die türkischen Terrorgruppen sind weitgehend zerschlagen...

Ömer Ezeren

In der Synagoge Neve Shalom in Istanbul gibt es eine Standuhr, deren Zeiger für immer um 9.17 Uhr stehen geblieben sind. Die Uhr erinnert an einen Überfall von 1986, bei dem ein palästinensisches Kommando 22 Teilnehmer eines Sabbat-Gottesdienstes erschossen. Am vergangenen Samstag war es 9.30 Uhr, als sich eine gewaltige Explosion ereignete.

Für die Mörder war es ein leichtes Spiel. Die Synagoge Neve Schalom, die »Oase des Friedens«, liegt in einer engen Straße, die zum Galata-Turm, einem der Wahrzeichen von Istanbul, führt. Auf beiden Straßenseiten befinden sich fast ausschließlich Lampengeschäfte. Während der ganzen Woche herrscht in der Einbahnstraße ein chaotisches Geschehen, weil Lastwagenfahrer hier ihre Waren ein- und ausladen. Autos hupen und der Verkehr stockt. In den Wohnungen über den Geschäften leben arme Einwanderer aus den östlichen Landesteilen, die sich seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in diesem Viertel angesiedelt haben.

Galata entstand aus einer venezianischen Kolonie und war später, in der Endphase des Osmanischen Reiches, ein jüdisches Zentrum in Istanbul. Das Viertel war lange Zeit dem Verfall ausgesetzt und repräsentierte nicht die moderne, säkulare Türkei.

Zum Freitagsgebet ist die kleine Moschee, die sich nur wenige Schritte von der Neve Schalom entfernt befindet, überlaufen. Weil der Raum in der Moschee nicht ausreicht, breiten viele Gläubige auf der Straße ihre Teppiche aus, um zu beten – ein ungewöhnliches Bild in der Türkei.

Jeden Samstag kommen Juden aus der ganzen Stadt in die wichtigste und größte Synagoge Istanbuls. Das Erscheinungsbild der Straße ändert sich. Besser gekleidete Menschen sind zu sehen. Nur die ärmsten Juden und das jüdische Altersheim sind in Galata verblieben. Sie sind eine verschwindende Minderheit unter den Gläubigen, die jeden Samstag die Neve Schalom besuchen.

Vor der Synagoge standen zwei Polizisten, die Tee tranken, rauchten und plauschten. Auch sie kamen bei dem Anschlag ums Leben. Am Samstag kamen noch einige junge Männer in schwarzen Anzügen von einer privaten Sicherheitsfirma hinzu. Obwohl die Sicherheitsvorkehrungen nach dem Anschlag von 1986 verschärft wurden, ist es ein aussichtsloses Unterfangen, die Synagoge zu schützen. Man müsste das ganze Viertel sperren. Die Synagoge war ein leichtes Ziel für die professionellen Bombenleger.

An normalen Samstagen versammeln sich in der größten Synagoge von Istanbul kaum mehr als ein paar Dutzend Gläubige. Diesmal aber waren hunderte da, um eine Bar Mitzvah – die Aufnahme eines Jugendlichen in die Gemeinde – zu feiern. Nahezu gleichzeitig explodierte eine weitere Bombe vor der fünf Kilometer entfernten Synagoge Beth Israel. Auch sie war voller als gewöhnlich, rund 300 Menschen feierten die Fertigstellung einer erneuerten Religionsschule. Unter den zahlreichen Verletzten sind auch der Oberrabbiner Isak Haleva und sein Sohn Josef, der schwere Augenverletzungen erlitt.

Bislang gibt es noch keine sicheren Informationen über die Täter. Die Zeitung Hürriyet berichtete von drei Personen, die am Wochenende wegen des Anschlags verhaftet und nach einem Verhör wieder freigelassen wurden. Und nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters haben die Ermittlungen ergeben, dass die Anschläge von Selbstmordattentätern verübt wurden.

Die Opfer des Attentats, bislang 23 Tote und über 300 Verletzte, sind hingegen schnell zu identifizieren. Sieht man von den Polizisten und den Sicherheitskräften ab, kann man die Opfer in drei Gruppen unterteilen: die Juden, die die Synagoge besuchten, die moslemischen Kleinhändler und die Nachbarn. Die Mörder haben Opfer unter den türkischen Moslems in Kauf genommen.

Nicht nur deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Autobomben das Werk türkischer islamistischer Gruppen sind. Die islamistischen Terrorgruppen, die Kampffront des Großen Islamischen Ostens (IBDA-C) oder die in den kurdischen Gebieten agierende Hizbollah, sind weitgehend zerschlagen, ihre Anführer verhaftet. Trotz antisemitischer Gesinnung verkörperten die türkischen Juden für diese Gruppen nie den »Hauptfeind«. Die Opfer von Terroranschlägen waren die säkularen Institutionen der Republik und einzelne Intellektuelle, die den »Laizismus« repräsentierten.

Auch in der Bevölkerung gibt es kaum Ressentiments gegen die jüdische Minderheit. Im Gegensatz zum christlichen Antijudaismus in Westeuropa war der Antisemitismus im Osmanischen Reich weitgehend unbekannt. Die Gründung der säkularen Republik Anfang des letzten Jahrhunderts fand unter dem Beifall der jüdischen Bevölkerung statt. Die diskriminierenden Maßnahmen der Republik, wie etwa eine Sondersteuer für Nicht-Moslems während des Zweiten Weltkriegs, betrafen nicht nur Juden, sondern auch Griechen und Armenier. In der Türkei galten die Juden türkischer Staatsangehörigkeit – mehrere zehntausend leben in Istanbul – immer als vorbildliche Bürger.

Gut möglich also, dass die türkischen Juden und die türkischen Moslems, die am vergangenen Samstag ermordet wurden, für die politische Symbolik von international agierenden Gruppen wie al-Qaida sterben mussten. Die Bombe in einer kleinen Istanbuler Straße traf Menschen, die ein bescheidenes Leben abseits der Weltpolitik führten.

Dass ausgerechnet die Türkei für die Terroranschläge ausgewählt wurde, bedarf dennoch einer Erklärung. Immerhin hat die Regierung in Ankara dem massivem Druck der USA standgehalten und die Militärbasen im Land nicht für den Angriff auf den Irak bereitgestellt. Nach dem Krieg erreichten die Beziehungen zwischen Washington und Ankara ihren historischen Tiefpunkt.

Zudem hat die Türkei erstmals in der Geschichte der Republik seit 1923 eine konservative Regierung, deren Mitglieder sich explizit als gläubige Moslems definieren. Die Umstände der Anschläge deuten darauf hin, dass neben der jüdischen Gemeinde auch das politische System des Landes angegriffen werden sollte. Schließlich ist die Türkei Nato-Mitglied und unterhält eine enge militärische Kooperation mit Israel.

Hinzu kommt wohl, dass das politische System der Türkei vom Westen in den vergangenen Jahren als Modell eines säkularen, politischen Regimes mit einer moslemischen Bevölkerungsmehrheit gepriesen wurde. Und dies nicht ganz unberechtigt: Trotz mehrerer Militärinterventionen ist die Türkei seit über einem halben Jahrhundert weitgehend eine parlamentarische Demokratie geblieben. Auch diesem Modell einer moslemischen Gesellschaft mit einer säkularen Demokratie könnten die Anschläge gegolten haben.

Jungle World
Jungle World vom 19.11.2003

kt / hagalil.com / 2003-11-19

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